Friedensengel im Sinkflug
Vor ungefähr einem Jahr habe ich an verschiedenen Stellen zum Thema Luftverkehr im Allgemeinen und über ihn als Friedensbringer geschrieben. Nun stehen wir ein Jahr später – jedenfalls kurzfristig und aktuell – fast ohne Luftverkehr da.
Friedensbringer, weil völkerverbindend, weil die Wirtschaft und den Güter- und Dienstleistungsaustausch fördernd. Dadurch entsteht Wohlstand auch in abgelegeneren Gebieten, es entstehen Bindungen zwischen Nationen und Menschen, Austausch von Ideen sowie Geschäftsanbahnungen. Und die eigentlich ganz einfache Formel „Wer Geschäfte macht, der bekriegt sich nicht!“ gilt sicher unverändert. Gewiss kann man das auch etwas „menschlicher“ ergänzen: Wer sich kennt und versteht, wer sich gegenseitig bereist und bespricht, der wird ebenfalls weniger konfliktanfällig sein. Und für all das Genannte ist und bleibt unter anderem der Luftverkehr der Katalysator.
Nun stehen wir ein Jahr später – jedenfalls kurzfristig und aktuell – fast ohne Luftverkehr dar. Ursache ist kein Krieg, kein Anschlag, keine Ölkrise, keine Wirtschaftskrise, kein Sicherheitsproblem des Luftverkehrs selbst. Vielmehr ist die Ursache eine Krankheit, ein Virus und dessen Verbreitung bzw. Verbreitungsgeschwindigkeit.
Dabei ist die Gefahr, sich im Flugzeug anzustecken, aufgrund der vergleichsweise hohen Durchsatz- und Filterleistung der Bordsysteme sehr gering, selbst bei enger Bestuhlung. Aber natürlich gibt es keine 100-prozentige Sicherheit. Zumal es ja Zubringer, Flughäfen und Destinationen gibt, an denen die Luft nicht immer auf Operationssaalqualität gebracht bzw. gefiltert wird. Da tröstet es wenig, dass Fahren mit der Eisenbahn oder mit dem (Kreuzfahrt-)Schiff wesentlich ungesünder ist. Wenn es nicht um Interkontinentalreisen geht und wenn man allein fährt, ist vermutlich das eigene Auto am sichersten.
Unverschuldet in Notlage
Der Luftverkehr ist unverschuldet in diese Notlage gekommen. Dies ist auch das Argument der meisten Airline- und Airport-Chefs, wenn staatliche Beihilfen angesprochen werden. Stimmt auch: Niemand aus der Aviation-Industrie hat die Katastrophe zu verantworten. Ob es Schuldige gibt oder man sie identifizieren kann, ist noch offen und wird vermutlich nie abschließend geklärt. Der Konflikt zwischen den USA und China dürfte sein Übriges tun.
Was nun? Das komplette Grounding fast aller Passagiermaschinen hat sich im Laufe des Juni aufgelöst. Trotzdem wird nicht annäherungsweise das Vorkrisenniveau erreicht. Bis auf die Luftfracht ist das weltweite Netz der Fluggesellschaften fast komplett zum Erliegen gekommen. Luftfracht ist eine Ausnahme, da so gut wie alle Regierungen und Länder ein Minimalinteresse haben, Fracht- und Lieferketten aufrechtzuerhalten. Zumal Fracht und Gepäck nicht dafür bekannt sind, Viren zu transportieren und somit zu übertragen.
Einige Airlines werden im Juli noch nicht dabei sein (z. B. Norwegian) oder gar nicht mehr dabei sein (Insolvenz). Andere, bereits totgeglaubte Airlines sind noch oder wieder dabei (Alitalia) – bedingt durch zahlreiche Staatshilfen wird die Wettbewerbsverzerrung zum Programm. Paradoxerweise können die ursprünglich ganz schwachen Marktteilnehmer nun möglicherweise zum – temporären – Gewinner werden.
Keine Einigkeit innerhalb der EU
Leider gibt es keinen EU-weiten Ansatz für Staatsbeihilfen für Airlines und Airports. Somit führen die Beihilfen ohne jede Frage zu dauerhaften Marktverzerrungen. Das Frankreich-Modell besteht im Wesentlichen aus Beihilfen gegen Aufgabe von Kurz- und Inlandsstrecken. Dies bringt erhebliche Nachteile für die Reisenden mit sich: Gepäckbeförderung, umsteigen, lange Wege, keine Anschlussgarantien bei Zug- oder Flugverspätungen und vieles mehr. Allerdings verfügt Frankreich immerhin über ein grundsätzlich leistungsfähiges Bahnnetz – jedoch mit beschränkten Direktanschlüssen ausgerechnet bei Paris-Charles-de-Gaulle und gar keinen Anschlüssen bei Paris-Orly. Italien stellt bis auf eine Verkleinerung der Belegschaft gar keine Bedingungen. Also Ungleichheit par excellence.
Wie sieht die Zukunft aus?
Werden die Ticketpreise steigen oder sinken? Beides vermutlich. Die Anzahl der verfügbaren Sitzplätze wird vermutlich kurz- und mittelfristig sinken – im Vergleich zum Vorkrisenniveau. Die Preise werden steigen, weil das Angebot geringer ist und mehr Margendruck besteht, und sinken, weil einige Anbieter versuchen werden, den Markt anzuschieben und bestimmte Strecken generell besser auszulasten.
Ich halte das Modell, das auch in den USA immer diskutiert wird, für sinnvoll: Durch staatliche Beihilfen sollten alle oder bestimmte Strecken am Anfang stark und dann langsam abschmelzend subventioniert werden. Dadurch wird schnell ein Teil des ursprünglichen Angebots wiederhergestellt – was dann fast automatisch zu einem Anschub der Nachfrage führt. Infrastruktur – also hier Flugfrequenzen – werden schnell zur Verfügung gestellt. Das nützt allen – den Airlines, den Airports, den Reisenden, den Zieldestinationen und der Wirtschaft insgesamt. Natürlich würde das dazu führen, dass einzelne Strecken am Anfang auch (halb-)leer geflogen werden. Angebot und Nachfrage werden das schnell regeln.
Ein Modell, das beim öffentlichen Personennahverkehr schon immer da war: Bestimmte Strecken und Zeiten werden regelmäßig angefahren, weitgehend entkoppelt von der Nachfrage, um Infrastruktur zu schaffen oder zu erhalten. Im Luftverkehr würde das nur zeitlich begrenzt angewendet, um eine Verkehrsdichte ähnlich der zum Vorjahr zu erreichen, so meine Ansicht. Der globale Luftverkehr verbindet Länder und Wirtschaftsräume, Menschen und Kontinente. Er schafft Urlaubsträume und bahnt Geschäfte an. Die Friedensengel fliegen weiter – aber kurzfristig eben weniger – ein Grund mehr, auf sie gut aufzupassen!
Photo Credits: studioZeta
Marcel Riwalsky, Berater in der Luftfahrtindustrie